Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 182 – Donnerstag, 06. August 1914
Feldpostbriefe. Bei sämtlichen Postanstalten und den amtlichen Verkaufstellen für Postwertzeichen werden Formulare zu Feldpostkarten und Briefumschläge zu Feldpostbriefen die für den Gebrauch zu Mitteilungen an die mobilen Truppen bestimmt und zu dem Zwecke auf der Vorderseite mit entsprechendem Vordrucke versehen sind, zum Verkauf an das Publikum bereitgehalten. Die Briefumschläge können sowohl zu gewöhnlichen, als auch zu Geldbriefen benutzt werden. Der Verkaufspreis für die Feldpostkarten=Formulare beträgt 5 Pfennig für je 10 Stück und für die Feldpost=Briefumschläge 1 Pfennig für je 2 Stück.
Nr. 183 – Freitag, 07. August 1914
Mitbürger! Hütet euch vor Ausschreitungen gegen die Fremden! Begeht insbesondere keine Exzesse gegen englisch sprechende Männer und Frauen, denn unter ihnen befindet sich eine große Anzahl von Amerikanern, die uns freundschaftlich gesinnt sind! Vergeßt auch nicht die vielen Hunderttausende unserer deutschen Landsleute im Auslande, an denen Vergeltung geübt werden würde! Meistert euren gerechten Zorn und wahrt die Würde unserer Stadt, in deren Schutz die Fremden stehen.
Nr. 185 – Sonntag, 09. August 1914
Warnung für Taubstumme! Begebt euch nicht in die Nähe von Gebäuden, Brücken und anderen Anlagen, die durch Posten bewacht werden. Da ihr den Anruf nicht hört, könnt ihr erschossen werden.
Richtet die Laubenkolonien für Schweinemastanstalten ein; sammelt Küchenabfälle für Laubenkolonisten zum Mästen von Schweinen; züchtet Schweine, Kaninchen und Geflügel um der Fleischteuerung zu begegnen. Bestellt alle Gärten, die abgeerntet sind, mit Grünkohl und anderem Wintergemüse usw.
Nr. 187 – Mittwoch, 12. August 1914
Der jüngste Rekrut unseres Armeekorps dürfte wohl der Sohn eines Neuköllner Bürgers, des Apothekers Rosochacki, Richardstr. 117, sein. Der junge Krieger stellte sich am Morgen des Tages, an dem er 17 Jahre alt wurde, beim Kaiser=Franz=Grenadierregiment als Kriegsfreiwilliger, woselbst er sofort eingekleidet wurde.
Laßt keine Drachen steigen! Zum Schutze der oberirdischen Telegraphenleitungen ist es unbedingt geboten, daß das Auflassen von Papierdrachen jetzt vermieden wird.
Nr. 200 – Donnerstag, 27. August 1914
Soldatenstrümpfe. Auf vielfachen aus dem Leserkreise uns zugegangenen Wunsch teilen wir das Muster zum Stricken von Soldatenstrümpfen mit: Bei feiner Strumpfwolle sind 100 Maschen, bei grober 96 Maschen anzulegen, der Rand ist 12 Zentimeter breit rechts und links zu stricken; es ist zehnmal abzunehmen bis auf 80 Maschen unter dem Hacken. Der Hacken hat 80 Nähtchen, beim Keil wird achtzehnmal abgenommen mit Ueberstricken einer Runde. Die Länge des Strumpfes beträgt 30 Zentimeter. Vom Hacken bis zur Spitze ebenfalls 30 Zentimeter.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1914 übernommen.
Die Originale befinden sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Zwischen Angst und Hurrapatriotismus
Neukölln nach der Mobilmachung
Nachdem Russland ein deutsches Ultimatum verstreichen ließ, konnte der deutsche Kaiser in einer theatralischen Geste am 1. August 1914 die Kriegserklärung an Russland als Akt der heroischen Vaterlandsverteidigung gegen den Aggressor aus dem Osten in Szene setzen.
Eine Mischung aus Jubel und Angst prägte die Menschen in diesen Tagen. Das »Neuköllner Tageblatt« schrieb dazu: »Wie ein befreiender Hauch ging es durch die Gemüter… In den Augen der meisten Männer aber glänzte helle Begeisterung… Freilich sah man auch viele bestürzte und schmerzbewegte Gesichter und manche weinende Frau lief händeringend über die Straße.«
Erster Sold nach der Mobilmachung.
Foto: Bundesarchiv
Im Arbeiterbezirk Neukölln wurde fast jeder zweite Mann einberufen. Nach Informationen des »Tageblatts« gab es Häuser, in denen nicht ein einziger Mann zurückblieb. Für die Arbeiterfamilien, die vom Lohn der Männer abhängig waren, ein Grund, mit Bangen in die Zukunft zu schauen.
Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn wurden die Folgen für die Zivilbevölkerung deutlich. Das gewerbliche Leben kam weitgehend zum Erliegen. Besonders die kleinen Geschäfte hatten zu leiden, die Kundschaft kaufte nur noch das Nötigste. Viele Geschäfte wurden auch geschlossen, weil Inhaber ins Feld ziehen mussten. In der Landwirtschaft fehlten Arbeitskräfte, die Industrie, die von Ein- und Ausfuhren abhängig war, wurde mehr oder weniger stillgelegt.
Hunger und blanke Not prägte das Leben vieler Menschen in den folgenden vier Jahren.
mr